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Grussworte Grußworte

Grußwort von Prof. Dr. Ekkehard May

Alles auf Anfang

Aus den ersten zwanzig Jahren

Ekkehard May | Emeritus der Japanologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität

Wenn ich an dieser Stelle einige Worte zum vierzigjährigen Jubiläum der Japanologie an der Universität Frankfurt am Main sagen darf, dann wird mir zunächst klar, wie sehr der große Zeitabstand Strukturen der Geschehnisse erkennbar macht, Entwicklungen und Koinzidenzen aufdeckt. Die Reminiszenzen im Folgenden fügen sich zu einem Gesamtbild zusammen …

Für mich war im Sommersemester des Jahres 1981 alles „auf Anfang“: Frisch habilitiert (an der Ruhr-Universität Bochum) und nun mit einer Professur versehen, war der Start in hoffnungsvolle Planungen gegeben. Die Frankfurter Japanologie war selbständig geworden; aus dem Verbund mit der Sinologie und den Südostasienwissenschaften herausgelöst, wobei diese Fächer im damaligen Fachbereich „Ost- und außereuropäische Sprach- und Kulturwissenschaften“ ebenfalls unabhängig wurden.

Erstaunlicherweise war mein Wunsch, den inhaltlichen Zuschnitt ganz auf „Sprache und Literatur“ auszurichten, von den zuständigen Gremien der Universität akzeptiert worden, ohne die damals üblichen Diskussionen zur gesellschaftlichen Relevanz der sog. „Orchideenfächer“.

Mein „Lehrplan“ für die nächsten zwei Dekaden stand fest: Die strenge, funktionale Grammatikbetrachtung, wie ich sie in meiner Studienzeit bei Günther Wenck in Hamburg lernte, sollte im Zentrum einer umfassenden und gründlichen Sprachausbildung stehen; die klassische japanische Literatur, die klassische Moderne sowie die zeitgenössische Literatur sollten in Forschung und Lehre zyklisch dargeboten werden – mit der Edo-Zeit als Schwerpunkt.

Ein äußerer Anlass verfestigte dieses letztere Vorhaben, lenkte es aber in eine ganz ungeplante Richtung: Der überraschende Fund von ca. 70 Edo-Blockdruckbüchern im Keller des Institutsgebäudes in der Dante-Straße von Frankfurt (anderweitig schon ausführlich beschrieben). 

Bereits anlässlich meiner Dissertation über das Tôkaidô meishoki des Asai Ryôi (1973) hatte ich mich mit der Lesbarmachung und der Druckwiedergabe der historischen kana-Formen und der sôsho-Kursive beschäftigt.

Als ich im Jahre 1981 plante, lag die „Erscheinung“ des Internets, des allmächtigen WWW, noch in weiter Ferne voraus, und es gab auch noch keinen „Personal Computer“. Aber es kamen fast genau in dem kurzen Zeitabschnitt Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre Geräte zur japanischen Texterstellung, Textverarbeitung heraus, die kurz wâpuro genannt wurden (von wâdo purosessa, word processor). Sie sahen aus wie eine Kreuzung von Schreibmaschine und dem heutigen Laptop. Ich hörte davon an einem japanischen Stand auf der Frankfurter Buchmesse – keine Firma käme jetzt ohne dieses neue Gerät aus. Das flugs angeschaffte elektronische Wunder enttäuschte keinesfalls. Die technischen Möglichkeiten, z.B. hentaigana oder odoriji Punkt für Punkt selbst zu konstruieren, waren für einen Schriftbegeisterten wie mich von großer Faszination. 

Hier eröffneten sich die Chancen, vormoderne japanische Texte eins zu eins „abzubilden“, und es bot sich die Aussicht, nach strengeren Editionsprinzipien vorzugehen, als ich sie mit einem Gefühl des leichten Ungenügens in einer Zahl von japanischen Herausgaben verwirklicht sah.

Die Schwierigkeiten mit der damals aber noch ein wenig ungelenken Technik waren jedoch unübersehbar: So erinnere ich mich an manche verzweifelten Bemühungen z. B. die unumgänglichen und allgegenwärtigen furigana immer in richtiger Anordnung einzufügen.

Das Experiment, Studierende, die sich gerade in die höchst komplizierte vormoderne Sprache „einlasen“, an Original-Blockdrucktexte heranzuführen, war ein Wagnis, gelang aber leichter als vorherzusehen war. Als Motivator wirkte dabei unverkennbar die Entdeckerfreude, etwas „herauszubekommen“, ohne sich dabei auf japanische Vorarbeiten des sog. honkoku 翻刻 zu stützen.

Die ersten Magisterarbeiten, die unter solchen Bedingungen entstanden, betraten so auf ihre Weise Neuland, verlangten die philologische Erschließung in ihrer Gesamtheit, von der „Abbildung“ des Textes, zur Lesbarmachung (lautliche Verifizierung), der Umsetzung in ein modernes Schriftbild, der Übersetzung und der Interpretation.

In einer Weise waren hier Lehrender und Lernende mit ihren Bemühungen auf Augenhöhe, was vielleicht für die Studierenden durchaus einen zusätzlichen Ansporn bedeuten konnte.

Mit den zunehmenden technischen Verbesserungen der Textverarbeitung – die wâpuro-Zeit ging Mitte der 80er Jahre zu Ende – war die erste Zeit unserer Experimente vorbei. In der neugegründeten Monographien-Reihe Bunken (11 Bde., Wiesbaden, Harrassowitz-Verlag 1987-2006) erschienen jetzt Dissertationen zu einzelnen Titeln aus dem Textkonvolut (Martina Schönbein 1987; Stephan Köhn 2002; Claudia Waltermann 2006), ergänzt durch die Bearbeitung von zwei Texten aus dem Museum Angewandte Kunst (ehemals Museum für Kunsthandwerk) der Stadt Frankfurt am Main (Bernd Jesse 1997; John Schmitt-Weigand 2004).

Unser Textkonvolut, Mitte der 90er Jahre durch einige kleine Zukäufe auf 100 Titel vermehrt, thematisch abgerundet und nunmehr Edo bunko. Die Edo-Bibliothek genannt, bot jetzt für die Studierenden auch Stoff und Gelegenheit zur Beschäftigung mit dem Gesamtkorpus der Sammlung in Gestalt einer beschreibenden Bibliographie (Bd. 8, 2003; Hg. May, Schönbein, Schmitt-Weigand, Mitarbeit S. Köhn, V. Paulat, E. Rühl, C. Waltermann, G. Woldering). Auch hier war es unser ehrgeiziges Bemühen, über die Standards der üblichen japanischen Bibliographien hinauszugehen und eine wirklich exhaustive Aufnahme zu bewerkstelligen, was bis zu der vollständigen Auflistung aller, in den Blockdrucktexten des 18. und frühen 19. Jahrhundert besonders häufigen Verlagsanzeigen ging, die in den normalen Katalogen meist unterschlagen werden. Sie bieten reichlich wertvolles bibliographisches Material, manchmal bis zu 20, 30 Nennungen, die es zu recherchieren galt. War es auf diese Weise durch Übernahme von Einzeltiteln möglich, eine größere Anzahl von Studierenden zu beteiligen, so ergab sich natürlich andererseits auch die Möglichkeit, einen Titel im Kollektiv zu erarbeiten.

Eine ganz besondere Herausforderung stellte die (Teil-)Bearbeitung des Ehon Muro no Yashima (1808) dar, eines romantisch-phantastischen Romans, der mit seltsam überbordender Exzentrik und „barockem“ Sprachgestus tausend Schwierigkeiten und wirkliches Neuland bot, nicht zuletzt dadurch, dass das vorgefundene Sprachmaterial oft nur schwach lexikalisch belegt war. Die Arbeitssitzungen mit dem Zusammentragen und Zusammenfügen, mit der Diskussion von Lösungen in dieser Puzzle-Arbeit zählt der Unterzeichnete mit zu seinen schönsten Erlebnissen philologischen Schaffens, die bis heute lebendig blieben. 

Ein Titel muss besonders erwähnt werden, da er zu einem Kristallisationspunkt unseres sich wie von selbst ergebenden, „ungeplanten“ Projektes werden sollte. Es ist der Band Kagebôshi 影法師(„Schattenbilder“) von 1754, der schon Mitte der 80er Jahre von dem renommierten Literaturwissenschaftler Kira Sueo von der Tôkyôter Waseda-Universität bei einer Sichtung unseres Konvolutes als Rarissimum erkannt und deklariert wurde. Dieses umfangreiche Werk, das haikai (haiku) mit Schwarz-Weiß-Tuschebildern (realisiert als Holzschnitte) verbindet, wurde Gegenstand vielfältiger Bemühungen. Die Dissertandin (Claudia Waltermann 2006), die einen Teil des Werkes übersetzte und die vielfältigen, sehr bemerkenswerten Kombinationen und Assoziationen zwischen Texten und Abbildungen analysierte, erhielt die Gelegenheit, zusammen mit Professor Kira das Werk als Mitherausgeberin in der Serie Koten bunko (Bd. 600, 1996) zu edieren. Hier ergab sich auch die Möglichkeit, die japanischen Ansprüche und Editionsgewohnheiten gewissermaßen aus der Innensicht kennenzulernen.

Als Seitenergebnis veröffentlichten wir eine kleine Auswahl der reizvollen Bilder und Verse, die 1995 unter dem Titel „Bambusregen“ als Band 1124 der Insel Bücherei erschien (May, Waltermann). Angesichts der Tatsache, dass es sich bei den Verfassern und Zeichnern um kaum besonders bekannte Autoren handelte, erscheinen über 20.000 verkaufte Exemplare in zwölf Auflagen bis heute überraschend. Ein schönes Zusammenwirken von vielleicht „elitärer“ Textwissenschaft und dem allgemeinen Publikum. 

Last but not least – um noch einmal zum Anfang zurückzukommen, aber nicht unmittelbar mit unserer Sammlung zusammenhängend: Zyklische Veranstaltungen zur Literaturgeschichte hatte ich mir vorgenommen; innerhalb der Edo-Zeit, dem Schwerpunkt, sollten natürlich auch die Genres abwechseln. Haiku gehörte selbstverständlich pflichtgemäß dazu – und bei haiku blieb ich hängen. In meiner Studienzeit in Hamburg hatte ich die Kurzlyrik nur als Nebensache wahrgenommen, was ein Reflex wohl auch der Japanologie damals allgemein auf die problematische Rezeption dieser Spezies besonders in Deutschland war. Haiku war als exotische Dichtung Beschäftigung vor allem romantischer Asien-Schwärmer, und stark verfälschende und romantisierende Zweit- und Drittübersetzungen fanden weite Verbreitung. 

Für meine Kollegs musste ich mich gründlich einarbeiten – und änderte meine Einstellung sehr schnell. Bald wurde mir aber klar, dass ich mit den japanischen Standardkommentaren und „Auslegungen“ durchaus nicht konform ging; auch hier war die japanische philologische Tradition wie im Falle der Editionen eine andere. Ich wollte versuchen, es aus westlichem Blickwinkel anders zu machen. Nicht als Hybris zu verstehen: Es ist ein natürlicher Impetus, etwas besser, d.h. anders zu machen. Die genaue, „dichte Beschreibung“ und die ins Einzelne gehende Auslegung förderte Aussagenuancen zu Tage, die bei den herkömmlichen (Sach)Kommentaren meist verloren gehen mussten.

Dass ich mich in den drei Bänden „Shômon“ (2000, 2002, 2006) nicht mit den Großen der haiku-Dichtung beschäftigte, sollte zum einen verhindern, die hinlänglich bekannten, „verkitschten“ Verse zu perpetuieren, so den unausweichlichen Dreizeiler „Geräusch vom Frosch, der ins Wasser hüpft“, zum anderen wurde mir klar, dass die Verse der Schüler und Enkel-Generation des Altmeisters Bashô deutlich unterbewertet und z. T. kaum beachtet waren. Auch hier war wieder die beliebte Entdeckungsreise mit eye-opener Effekt zu unternehmen.

Der kleine, aber renommierte Dieterich-Verlag in Mainz unternahm es, mit unseren Bänden nicht nur die bekannte Leserschaft anzusprechen, die sich speziell für Asiatika interessierte, sondern ein breites Publikum dafür zu schaffen und zu halten, das wissenschaftlich fundierte Einführungen und Übersetzungen ästimiert und willkommen heißt. Eine veränderte Rezeption des haiku, des so bedeutsamen „Alleinstellungs-Merkmals“ der japanischen Literatur – vielleicht eine nicht unwichtige Rückwirkung der Arbeit der Frankfurter Japanologie in den 90er Jahren?

Der Kirschbaum vor dem Fenster meines Arbeitszimmers blüht wie vor 40 Jahren. Er ist sehr knorrig geworden; an seiner Spitze trägt er Spuren eines Verjüngungsschnittes. Er wird bestimmt auch in zehn Jahren zum 50. der Japanologie blühen. Ich bin mir sicher, dass die jetzige Japanologie in Frankfurt prosperieren und  feiern können wird – und Corona nur noch eine Erinnerung hito-mukashi bleibt.

Ekkehard May

6. April 2021, Gelnhausen

  1. S. Edo bunko. Die Edo-Bibliothek, Wiesbaden 2003, S. 9f. (Bunken, Bd. 8).

Edo-Bibliothek – Institut für Ostasiatische Philologien, Japanologie

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